Gedichte: Weltende

 
 

Die Stadt (A. Lichtenstein)

Die Fahrt nach der Irrenanstalt 1 (A. Lichtenstein)

Die Fahrt nach der Irrenanstalt 2 (A. Lichtenstein)

Die nüchterne Stadt

Berlin, halt ein... (P. Zech)

M. Oppenheimer: Weltuntergang, 1916

 

 

Türme in der großen Stadt (M. Herrmann-Neisse)

Die gespiegelte Stadt (O. Loerke)

Die Mörder sitzen in der Oper (W. Hasenclever)

Totenvögel, von einem Berliner Friedhof (O. Loerke)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Stadt

Ein weißer Vogel ist der große Himmel.

Hart unter ihn geduckt stiert eine Stadt.

Die Häuser sind halbtote alte Leute.

 

Griesgrämig glotzt ein dünner Droschkenschimmel.

Und Winde, magre Hunde, rennen matt.

An scharfen Ecken quietschen ihre Häute.

 

In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du, ach, du -

Wenn ich dich endlich, o Geliebte, fände...

Ein Haufen um ihn staunt und grinst voll Spott.

 

Drei kleine Menschen spielen Blindekuh -

Auf alles legt die grauen Puderhände

Der Nachmittag, ein sanft verweinter Gott.

(Alfred Lichtenstein, 1913)

 

 

 

 

 

 

Die Fahrt nach der Irrenanstalt 1

Auf lauten Linien fallen fette Bahnen

Vorbei an Häusern, die wie Särge sind.

An Ecken kauern Karren mit Bananen.

Nur wenig Mist erfreut ein hartes Kind.

 

Die Menschenbiester gleiten ganz verloren

Im Bild der Straße, elend grau und grell.

Arbeiter fließen von verkommnen Toren.

Ein müder Mensch geht still in ein Rondell.

 

Ein Leichenwagen kriecht, voran zwei Rappen,

Weich wie ein Wurm und schwach die Straße hin.

Und über allem hängt ein alter Lappen -

Der Himmel... heidenhaft und ohne Sinn.

(Alfred Lichtenstein, 1912)

 

 

 

 

 

 

Die Fahrt nach der Irrenanstalt 2

Ein kleines Mädchen hockt mit einem kleinen Bruder

Bei einer umgestürzten Wassertonne.

In Fetzen, fressend liegt ein Menschenluder

Wie ein Zigarrenstummel auf der gelben Sonne.

 

Zwei dünne Ziegen stehn in weiten grünen Räumen

An Pflöcken, deren Strick sich manchmal straffte.

Unsichtbar hinter ungeheuren Bäumen

Unglaublich friedlich naht das große Grauenhafte.

(Alfred Lichtenstein, 1912)

 

 

 

 

 

 

Die nüchterne Stadt

Straßauf, straßab durchstreifen wir die Stadt,

die graue Stadt, die Stadt zermürbter Brücken.

Verlumpte Bettler drohen giftig mit den Krücken

und Händler drücken uns an Häusern platt.

 

Aus Wirtshausfenstern wirbelt fetter Bratgeruch

und Lustgebrüll aus hundert Singspielhallen.

Wir müssen schnell die Riemen fester schnallen

und ducken uns vor Fremdenhaß und Lästerfluch.

 

Den Korso überwölkt Geheul von Schiffsfanfaren

und Bahngeräusch bleit sich in unsre Nerven rücksichtslos.

Aus Pflasterritzen wuchert Unkraut riesengroß.

 

Verkrüppelt stehn paar Linden am Kanal.

Verstimmte Glocken überwimmern Lust und Qual

und nirgend sieht man Kinder, die sich um ein Spielwerk scharen.

(Paul Zech, 1914)

 

 

 

 

 

 

Berlin, halt ein...

Die Wolken ziehn gewitterschwer,

die Straße strotzt vor Lärm und Licht,

und in dem weißen Lichtermeer

hat nichts mehr menschliches Gesicht.

Mit Tiergebiß und Geierkrallen

sind sie der letzten Lust verfallen

und tanzen, wenn der Donner grollt,

zu Trommelschall und Lästermaul:

      Berlin, wach auf und sei nicht faul,

      dein Tänzer ist das Gold!

 

Berlin, das ist ein Höllenpfuhl,

da hockt die Hure Zeitvertreib

in einem goldnen Schaukelstuhl

und bläht ihn auf, den blanken Leib,

und schluckt mit Haut und Haar die Knaben,

die ihren Vater längst vergessen haben.

Der seufzt in seiner Todesqual

im Feld, erwürgt von Gift und Gas:

      Berlin, merk auf, zum letzten Mal,

      dein Tänzer ist der Satanas!

 

Sie tanzen um das Kalb herum

vom Morgen bist zur Mitternacht

und haben nie gewußt, warum

da draußen in der Bruderschlacht

die dummen Männer sich zerfleischen.

Sie hören nur die Geigen kreischen

und manchmal einen Pfeifenschrei

zum Mummenschanz und Maskenfest:

      Berlin, halt ein, es bleibt dabei,

      dein Tänzer ist die Pest.

 

Der Krieg fraß alle Männer weg,

und Gott wiegt keinen Heller mehr,

sein Bild verwest zu Blut und Dreck.

Weiß keiner mehr, wohin, woher

die schwarzen Wetterwolken jagen?

Die Erde ist mit Fluch geschlagen

und heult im letzten Bogenstrich

von Morgenrot zu Morgenrot:

      Berlin, halt ein, besinne dich,

      dein Tänzer ist der Tod.

(Paul Zech, 1914/16)

 

 

 

 

 

 

Türme in der großen Stadt

Wir wollen uns immer die Hände reichen

über Patina- Grün und Lichter- Flug,

doch unsrer ehernen Zungen Zeichen

(Wo ist die Stille, die einst uns trug?)

haben sich nie vereint,

immer war irgendein Feind

zwischen uns: Räderspeichen,

Autohupen, Reklamen, ein Stadtbahnzug!

 

Wir starren, verdorrte Bäume, in Schwüle

(Manchmal schwebt uns ein Luftschiff nach...)

dürstend nach der Sterne Kühle

und der Wolken Gloria.

Rauch erdrosselt weh

unser: Kyrie!

und wie Henkerstühle

stehn Plätze; Drähte sind wie Mördernetze da.

Über uns kommen Nachtmanöver, Kanonen,

wir möchten ausschlagen wie auf dem Wall

junge Pferde, aber wir müssen uns schonen

und stehen immer wie im Stall.

Goldner Kreuze Last

liegt auf uns verhaßt.

Wo unsre Brüder wohnen,

wissen wir nicht. In Scherben zerschellt unsrer einsamen

Stimmen Schall...

 

Unsre Leiber sinken verloren, erbleichen

bei Patina- Grün und Lichter- Flug.

Wir liegen wie einbalsamierte Leichen,

ewiger Krieg tausend Wunden uns schlug.

Sind nie vereint,

immer trennt und ein Feind,

daß wir uns nie erreichen -

wo ist die Stille, die einst uns trug,

... und ertrug?

(Max Herrmann-Neisse, 1914)

 

 

 

 

 

 

Die gespiegelte Stadt

Der Regen fällt. Berlin durchhallt die kalte

Sintflutmusik der Nacht. Der Regen fällt.

Noch ein Berlin, steil auf den Kopf gestellt,

Versinkt umgraut, verschwommen im Asphalte.

 

In steifen Prozessionen stehn Laternen

Und glühn tief unter sich, und schwarzer Stein

Scheint alle Leere, aller Raum zu sein

Bis in des Himmels stumpf geballte Fernen.

 

Im Stein stehn Bilder, gleich vergessnem Truge

Magnetisch an die obre Welt geklebt.

Sinds Häuser? Straßen? Leben kommt und schwebt

Verkehrt, verwünscht, gleich einem Faschingszuge.

 

Die Menschen wollen in den Himmel schwinden,

Hinab, gleich Blättern, vom Asphalt geweht,

Hinab in sinkend schönem Kreis gedreht,

Sich selig in die Wettertiefe winden.

 

Doch ihre Sohlen haften an den Steinen,

Ganz oben hält sie traurige Gewalt.

Die leichtre Welt im Spiegel aus Asphalt

Und die darüber bleiben in der einen.

 

Und immer schwerer stürzt und stürzt der Regen.

Des Abgrunds Himmel brüllen wie ein Meer.

Im Nichts den Fuß, hoch geh ich drüber her.

Schwermütig kommt das leere Nichts entgegen.

 

Die Wagen stehn vermummt in Lederkutten,

Wer unterm nassen Leder sitzt, vermummt;

Turmtief von einem Hause sehn verstummt

Zwei nackte tote Knaben, Sandsteinputten:

 

Halb graues Chaos schon und nur zu ahnen,

Sie horchen in die wüste Nacht aus Stein

Und schreiten Hand in Hand matt aus dem Sein,

Der dumpfen Ungewißheit Untertanen.

 

Und ich auch schreite, Knecht des Ungewissen,

Die Bilder deutend, jenseits aller Zeit.

Voll ungeheurer Traumestraurigkeit

Umschweben sie im Schlaf noch meine Kissen:

 

Nichts war mehr, außer unter meinem Fuße

Die große Stadt; die hing von Türmen schwer,

Wie Stalaktiten überm Himmelsmeer,

Ganz schwarz, ganz still, im Krampf der Todesmuße.

 

Die sternentief entfernten Weiten schollen,

Die Düsternisse wetterleuchteten,

Daß Ängste meine Schläfen feuchteten,

Vulkanisch murrend wuchs und wuchs ein Rollen - -

(Oskar Loerke, 1916)

 

 

 

 

 

 

Die Mörder sitzen in der Oper

Zum Andenken an Karl Liebknecht

Der Zug entgleist. Zwanzig Kinder krepieren.

Die Fliegerbomben töten Mensch und Tier.

Darüber ist kein Wort zu verlieren.

Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

 

Soldaten verachtet durch die Straßen ziehen.

Generäle prangen im Ordensstern.

Deserteure, die vor dem Angriff fliehen,

Erschießt man im Namen des obersten Herrn.

 

Auf, Dirigent, von deinem Orchesterstuhle!

Du hast Menschen getötet. Wie war dir zu Mut?

Waren es viel? Die Mörder machen Schule.

Was dachtest du beim ersten spritzenden Blut?

 

Der Mensch ist billig, und das Brot wird teuer.

Die Offiziere schreiten auf und ab.

Zwei große Städte sind verkohlt im Feuer.

Ich werde langsam wach im Massengrab.

 

Ein gelber Leutnant brüllt an meiner Seite:

„Sei still, du Schwein!“ Ich gehe stramm vorbei:

Im Schein der ungeheuren Todesweite

Vor Kälte grau in alter Leichen Brei.

 

Das Feld der Ehre hat mich ausgespieen;

Ich trete in die Königsloge ein.

Schreiende Schwärme schwarzer Vögel ziehen

Durch goldene Tore ins Foyer hinein.

 

Sie halten blutige Därme in den Krallen,

Entrissen einem armen Grenadier.

Zweitausend sind in dieser Nacht gefallen!

Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

 

Verlauste Krüppel sehen aus den Fenstern.

Der Mob schreit: „Sieg!“ Die Betten sind verwaist.

Stabsärzte halten Musterung bei Gespenstern;

Der dicke König ist zur Front gereist.

 

„Hier, Majestät, fand statt das große Ringen!“

Es naht der Feldmarschall mit Eichenlaub.

Die Tafel klirrt. Champagnergläser klingen.

Ein silbernes Tablett ist Kirchenraub.

 

Noch strafen Kriegsgerichte das Verbrechen

Und hängen den Gerechten in der Welt.

Geh hin, mein Freund, du kannst dich an mir rächen!

Ich bin der Feind. Wer mich verrät, kriegt Geld.

 

Der Unteroffizier mir Herrscherfratze

Steigt aus geschundenem Fleisch ins Morgenrot.

Noch immer ruft Karl Liebknecht auf dem Platze:

„Nieder der Krieg!“ Sie hungern ihn zu Tod.

 

Wir alle hungern hinter Zuchthaussteinen,

Indes die Opfer tönt im Kriegsgewinn.

Mißhandelte Gefangene stehn und weinen

Am Gittertor der ewigen Knechtschaft hin.

 

Die Länder sind verteilt. Die Knochen bleichen.

Der Geist spinnt Hanf und leistet Zwangsarbeit.

Ein Denkmal steht im Meilenfeld der Leichen

Und macht Reklame für die Ewigkeit.

 

Man rührt die Trommel. Sie zerspringt im Klange.

Brot wird Ersatz und Blut wird Bier.

MeinVaterland, mir ist nicht bange!

Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

(Geschrieben 1917)

(Walter Hasenclever, 1917)

 

 

 

 

 

 

Totenvögel, von einem Berliner Friedhof

Ihn schließen Feuerwände ein,

Ganz leer und ohne Scharten:

Ein Nebel wankt von Stein zu Stein

Im schlimmen Totengarten.

 

Im Nebel sitzen dünn und matt

Die Toten in den Eschen

Und stieren nach der lieben Stadt

Durch Mauern ohne Breschen.

 

Ein Schlot schreibt wie ein Riesenstift

Im Nebel schwarze Reihen.

Die Toten plappern nach die Schrift,

So klug wie Papageien.

 

Irr schallt das wie des Windes Ritt,

Weil Kringel nichts bedeuten.

Ein Pianino klappert mit

Und fernes Trambahnläuten.

 

Der Nebel raucht bei Frau und Mann

Aus Ohren und aus Gaumen.

Sie fangen zu vergehen an

Und drehen mit den Daumen.

 

Sie schmelzen rauchend in den Rauch

Und fallen aus den Kronen.

In blaue Streifen löst sich auch

Die dickste der Matronen.

 

Sie sieht ihr Bild im Glasherzschrein -

- Photographierte Glorie! -

Und auf dem Grab Vergißnichtmein

Und um das Grab Zichorie.

 

Und ist nicht mehr. Und jeder schwand,

Der tot im Totengarten.

Rings Feuerwand an Feuerwand,

Ganz leer und ohne Scharten.

(Oskar Loerke, 1911/12)