Analyse: Frauen

 

Richter-Berlin: Unsere liebe Frau... 1913Zu den expressionistischen Lyrikern gehörten bis auf wenige Ausnahmen nur Männer, und die waren größenteils noch sehr jung. Frauen und Liebesabenteuer haben in ihrem Leben also eine wichtige Rolle gespielt und wurden in ihre Werke thematisch einbezogen.  

Ein wichtiger Aspekt dieser Gedichte ist die Stadt Berlin, die als atmosphärischer Hintergrund mitgedacht werden muss, denn nur in der Anonymität der Großstadt konnten die Dichter ihre sexuelle Freizügigkeit ausleben, beziehungsweise aufschreiben und veröffentlichen.

Das ist vielleicht der Grund dafür, dass die expressionistische Berlin-Lyrik weniger von Liebe als von Erotik und Sexualität handelt[217].

So sind die in den Gedichten genannten Frauen meistens Prostituierte. Seltener werden diese dabei aber als Produkt der Großstadt gesehen, dass den Männern ihre sexuelle Freiheit ermöglicht und ihnen auf diese Weise Vergnügen und Befriedigung bietet, sondern sie sind als käuflich und berechnend dargestellt. Denn Frauen, die ihren Körper als Ware anbieten, machen Männer zu Konsumenten. Dieser Umgang mit dem weiblichen Geschlecht scheint den Männern also doch nicht das erhoffte Glück der persönlichen Entfaltung in der Großstadt zu bieten.

In ihrer teilweise sehr direkten Ausdrucksweise richten sich die Autoren gegen die wilhelminischen Moralvorstellungen. Dieser Tabubruch hat aber nichts freudig Sinnliches an sich. Sexualität bleibt etwas Schmutziges. Hier zeigt sich das Psychogramm einer Männergeneration, die die eigene Liebesunfähigkeit und ihre Angst vor der Frau als deren Versagen deutet[218]:

   Eine Frau ist etwas für eine Nacht.

   Und wenn es schön war, noch für die nächste!

   Oh! Und dann wieder dies Bei-sich-selbst-sein!

   Diese Stummheiten! Dies Getriebenwerden!

   Eine Frau ist etwas mit Geruch.

   Unsägliches! Stirb hin! Resede[.]

   (Gottfried Benn: „D-Zug“, 1912, V 12-17).

E. L. Kirchner: Frau auf Strasse 1913

Die männliche Einstellung zu den käuflichen Frauen kann auch ambivalent sein, so wie in dem Gedicht „Friedrichstraßendirnen“ (1913) von Paul Boldt:

   Gespannt von Wollust wie ein Projektil!

   Die reißen sie aus ihm wie Eingeweide,

   Gleich groben Küchenfrauen ohne viel

   Von Sentiment. Dann rüsten sie schon wieder

   Den neuen Fang. Sie schnallen sich in Seide

   Und steigen ernst mit ihrem Lächeln nieder[.]

   (V 9-14).

Die Frau wird sentimentalisiert und gleichzeitig brutalisiert[219], aber sie bleibt Geschlechtsobjekt, nur dass dieses Bild von den Expressionisten im Gegensatz zum vorangegangenen literarischen Frauenverständnis nun radikalisiert ist. Diese Einstellung zeigt eine pubertär verklärte Sicht der Beziehung zwischen Mann und Frau, so dass auch die lyrische Erwähnung sexueller Erlebnisse oft aus peinlichen Beschreibungen besteht, wie zum Beispiel bei Paul Boldt:

   Unser Geschlecht berauscht die Jungfraun! Schrien

   Nicht alle gleich? - Ach, dieser Lärmkehricht

   Deflorationen ist erinnerungsschlicht

   Verschollen wie Quartaneronanien[. -]-

   („Amor und Mors“, 1913, V 5-8).

In Anbetracht der Häufigkeit der Motive Sex und Lust, sowie einer, man könnte fast sagen Gleichstellung von Frau und Prostituierten, wird die reine Liebe zum melancholisch leisen Ausnahmezustand stilisiert.

Die Andeutung einer solchen Liebe, zumindest einer Liebesaffaire, macht Ernst Blass in dem Gedicht „Große Stadt“ (1913):

   Wo aber einst dein Mund sich meinem beugte

   Von Herzlichkeit dann spechend unentwegt -

   (V 22 u. 23).

Es ist hier nicht eindeutig, ob die Geliebte nicht doch eine Prostituierte war, so wie alle Frauen, die das Ich auf seinem Streifzug durch das nächtliche Berlin trifft. Zu dem Bild der „Große[n] Stadt“ gehören Frauen wie Gebäude, und so wie „Wunderdirnen“ krank sind (V 13), so

   Werfen Etagen sich im Nebelfieber[.]

   (V 19),

und so wie ein ganzer Stadtteil das lyrische Ich an Krankheit denken lässt, erscheint die schöne Liebeserinnerung als ein Stück tragischer Vergangenheit.

Das Gedicht „An eine Jüdin in Schwarz“ (1911) von Max Herrmann-Neiße ist sicher ein Liebesgedicht, doch ist auch hier die Liebe gekoppelt mit Verlangen, Lust und vor allem körperlicher Liebe. G. Grosz: Spaziergang 1917

Neben der Kategorisierung der Frau als Prostituierte und Geliebte[220], empfindet Benn in seinem Gedicht „Untergrundbahn“ (1913) das Weibliche als eine Art Erlösung. Er sieht die Frau als naturhaft, vegetativ und animalisch:

   laues Geblühe, fremde Feuchtigkeiten.

   Oh, wie ihr Mund die laue Luft verpraßt!

   Du Rosenhirn, Meer-Blut, du Götter-Zwielicht,

   du Erdenbeet, wie strömen deine Hüften

   so kühl den Gang hervor, in dem du gehst!

   Dunkel: nun lebt es unter ihren Kleidern:

   nur weißes Tier, gelöst und stummer Duft[.]

   (V 7-13)

und setzt sie damit konträr zum männlichen Ich, welches an seinem Bewußtsein und seiner Verhirnung leidet:

   Ein armer Hirnhund, schwer mit Gott behangen.

   Ich bin der Stirn so satt. [...]

   (V 14 u. 15).

Das Weibliche wird zu Glückszustand, es hat, was das männliche Ich sich nur erträumt: ein Rosenhirn, schön, farbig, duftend und ist organischer Bestandteil der Natur.

Diese Erweiterung der Sicht in der Charakterisierung der Frau enthält durchaus auch eine anmaßende Einschätzung: Benn spricht hier nur dem Mann eine Auseinandersetzung mit seiner Psyche zu. Diese ist zwar schmerzvoll, prägt aber dennoch seine Denkfähigkeit und Persönlichkeit. Wieder geht die Definition des Weiblichen nicht weit über die des Geschlechtsobjekts hinaus, denn die Stilisierung der Frau zu einer Einheit mit Welt und Natur ist die Folge einer erotischen Begegnung zwischen lyrischem Ich und fremder Frau im Dunkel der Bahn.

Benn zeigt in dem Gedicht „Saal der kreißenden Frauen“ (1912) die Frau als biologisches Geschöpf, das Kinder gebärt, doch die in der Armut und dem Elend der Großstadt nur

   Hure[n], Gefangene, Ausgestoßene[-]

   (V 3)

sein kann.

Frauen, die täglich ihrem Beruf nachgehen, ohne dabei Prostituierte zu sein, werden erstmals von Jakob van Hoddis in seinem Gedicht „Morgens“ (1907/09) beschrieben.

Berlin, das bedeutete ebenfalls Industrie und Arbeit. Hier müssen auch Frauen in der Fabrik arbeiten, um sich den Unterhalt für ihr ärmliches Leben in der Großstadt zu verdienen.

Arbeitssuche um 1910

 

Fräulein vom Amt 1906

 

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