Analyse: Abschied

 

Die Trennung von Berlin ist das Thema der nachfolgenden drei Gedichte. Auch wenn die Motivation in jedem Gedicht eine andere ist, so haben alle doch eins gemeinsam: Im Abschied drücken sie ihre widersprüchlichen Gefühle zu der Stadt aus, in der sie leben, arbeiten und lieben.

Die Abreise in dem Gedicht „Abschied von Berlin“ von René Schickele, wird vom lyrischen Ich jubelnd herbeigesehnt:

   Hurra! Der Strudel hat mich ausgespieen.

   Fiebernd blicke ich und stammle Fluchgesänge.

   Der D-Zug fährt noch zwischen Häusern hin.

   Und ich bete, daß die Befreiung mir gelänge

   (V 1-4).

Das Scheiden aus der Hauptstadt scheint schwierig, ja fast unmöglich, wie die Metapher von Berlin als einem Strudel betont. Dennoch ist sich das Ich seiner Gefühle zu dem gerade vollzogenen Abschied nicht so sicher: Einerseits, weil es nicht weiß, inwiefern es ihm überhaupt gelingt, die Stadt zu verlassen, andererseits, weil der Grund, der ein Bleiben möglich machen würden, und der ab dem achten Vers beschrieben wird, sehr verlockend scheint. Das, was das Ich an Berlin fesselt, ist die Liebe zu einer Frau:

E. L. Kirchner: Rote Kokotte 1914   Nein, ich bliebe nicht, selbst wenn sie mich umschlänge

   und aus ihrem wunderschönen Mund sich ränge

   herzerschütternd Liebesglut und Angstgebet.

   Prinzeß, adieu! Jetzt trinkt ihr wohl Kaffee,

   (V 9-12).

Hier liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei der erwähnten Geliebten ebenso gut um eine Personifizierung Berlins handeln kann. René Schickele definiert das Verhältnis Subjekt und Stadt wie das Liebesverhältnis Mann und Frau, also als widersprüchlich, wechselhaft, irreal, beängstigend, einengend, krank machend, aber auch als aufregend, erotisch, faszinierend  und schön. In dieser Personifizierung ist die Beschreibung der ambivalenten Beziehung „Ich“ und „Berlin“ so vielseitig und phantasievoll gelungen, wie sonst in kaum einer anderen Metapher.

Die Widersprüchlichkeit des absoluten Willens der Stadt zu entfliehen und der lebhaft, positiv und enthusiastisch beschriebenen Liebe zu einer Frau ist auffällig und lässt die Absicht des lyrischen Ichs, die Stadt zu verlassen, unglaubwürdig erscheinen.

Diese Vermutung wird in der letzten Strophe bestätigt: Der Abschied gelingt nur für kurze Zeit, denn eine Rückkehr im Herbst steht schon fest.

   Prinzeß, wenn im Herbst die Abende erkalten,

   will ich es wieder in den Händen halten.

   Ihr biegt Euch wieder in meinen Armen und lacht

   ein Lachen, das uns von den Menschen scheidet.

   Doch bitte, bitte, nehmt Euch dann in acht

   und seht, daß Ihr nicht an Migräne leidet[.]

   (V 24-29).

Das Liebesverhältnis zu einer schönen, aufregenden aber spröden Frau entspricht seinen Gefühlen zu Berlin: So wenig wie es dem Ich gelingt, sich von der Geliebten auf immer zu trennen, so wenig schafft es das Ich auch, sich von der Stadt zu lösen.

Der Abschied von Berlin ist in Alfred Lichtensteins Gedicht „Der Ausflug“ (1912) eine Flucht aus der Stadt. Wenn, wie in so vielen expressionistischen Gedichten,

die Großstadt als ein Ort erfahren wird, an dem sich die negativen Tendenzen der modernen Zivilisation häufen und konzentrieren [286],

wäre ein Rückzug in die Natur eine konsequente Alternative. Die Vorstellung von der Natur als „eine[r] sanfte[n] Wiese“ (V 9 u. 10) stilisiert sie zu einer Art heilen Gegenwelt, in der sich die jungen Dichter nicht mehr eingeschnürt und unlebendig fühlen würden:

   Du, ich halte diese festen

   Stuben und die dürren Straßen

   Und die rote Häusersonne,

   Die verruchte Unlust aller

   Längst schon abgeblickten Bücher

   Nicht mehr aus[.]

   (V 1-6).

Doch das voraussehbare Ergebnis ist die Desillusion. Die Zuflucht in die Natur ist keine Erlösung von den Qualen, die das lyrische Ich in der Großstadt erlebt, denn die Probleme bleiben dieselben in der stadtfernen Natur. Außerdem weist der Titel des Gedichtes – Der Ausflug - darauf hin, dass der Aufenthalt dort auch nur zeitlich begrenzt ist.

In diesem Gedicht ist von einer ambivalenten Einstellung des Autors in seinem Verhältnis zu Berlin nichts zu spüren, denn das Ergebnis der Flucht aus Berlin ist für das Ich ebenso hoffnungslos wie die Rückkehr. Erst die Tatsache, dass das im Folgenden besprochene Gedicht: „Gesänge an Berlin“ (1914) ebenfalls von Alfred Lichtenstein stammt, bekräftigt, dass auch die Gefühle dieses Dichters von sehr unterschiedlichen Einstellungen zu Berlin geprägt sind. Denn mit „Gesänge an Berlin“ hat er eine der schönsten Liebeserklärungen an Berlin verfasst.

Hier steht ein unfreiwilliger Abschied von Berlin sowie die Sehnsucht nach eben dieser Stadt im Mittelpunkt.

Das Gedicht ist in drei Abschnitte unterteilt: Im Ersten schwärmt das lyrische Ich von seinem Leben in Berlin, besonders vom Nachtleben mit seinen Vergnügungen:

   Ach, wenn man nachts durch deine Lichter fließt

   Den Weibern nach, den seidenen, den fetten.

   So taumelnd wird man von den Augenspielen.

   Den Himmel süßt der kleine Mondbonbon[.]

   (V 3-6).

Die Aussicht darauf, bald abreisen zu müssen, bestimmt den zweiten Abschnitt des Gedichtes. Das Leben in der Provinz erscheint dabei öde (V 10) und leer, und der Abschied von der Stadt ist herzlich und kumpelhaft:

   Leb wohl, Berlin mit deinen frechen Feuern,

   Lebt wohl, ihr Straßen voll von Abenteuern.

   Wer hat wie ich von euerm Schmerz gewußt,

   Kaschemmen ihr, ich drück euch an die Brust[.]

   (V 13-16).

E. L. Kirchner: Potsdamer Platz 1914Im letzten Teil ist das Ich dann fort und reflektiert sein Dasein in fremden Städten. Aus dem „Ich“ wird in Vers 19 ein „Wir“ - das heißt, es gibt noch mehr Menschen, die wie das Ich empfinden und mit einem Leben außerhalb Berlins nicht glücklich werden könnten:

   Wir aber morsch und längst vergiftet, lögen

   Uns selbst was vor beim in die Himmel Schreiten[.]

   (V 19-20).

Die negativen Attribute, die den Großstadtmenschen dabei wie selbstverständlich zugesprochen werden, weisen darauf hin, dass das Ich die Meinung vertritt, die großstädtische Zivilisation, so wie sie in Berlin ausgeprägt ist, sei nicht nur krank, sondern mache es auch. Die positive Einstellung zu dieser Stadt wäre dann als nicht normal oder ungesund einzustufen und würde die Faszination, die das Ich und Gleichgesinnte trotz aller negativen Aspekte Berlin gegenüber empfinden, bestätigen.

Die Stadt Berlin wird als unvergleichlich dargestellt, und selbst ein Leben in anderen Städte gibt dem Ich kein Gefühl von Heimat:

   In fremden Städten treib ich ohne Ruder,

   Hohl sind die fremden Tage und wie Kreide[.]

   (V 21 u. 22).

Woanders kann das Ich nicht glücklich sein, denn Berlin ist eine Sucht, wie die Sucht nach einer Droge oder einer Frau:

   Du mein Berlin, Du Opiumrausch, Du Luder.

   Nur wer die Sehnsuch kennt, weiß, was ich leide[.]

   (V 23 u. 24).

Auch Alfred Lichtenstein bedient sich bezüglich der Darstellung Berlins der Metapher einer Geliebten, die auch eine Prostituierte sein kann. Die Empfindung des Ichs zur Hauptstadt ist von Faszination und Rausch bestimmt. Der Schlussvers (V 24) lehnt sich an ein Goethe-Zitat an:

Ach! der mich liebt und kennt, Ist in der Weite[287].

Es ist das Lied von Mignon und dem Harfner aus ,Wilhelm Meisters Lehrjahre’. Was ursprünglich eine in die Ferne gerichtete träumerische Liebessehnsucht ist, wird bei Alfred Lichtenstein anhand der Personifizierung Berlins zu einer konkreten und gegenwärtigen Form der Sehnsucht.

Die Trennung von Berlin wird in Alfred Lichtensteins Gedicht „Gesänge an Berlin“ auch als ein Zurücklassen eines Lebensgefühls und ein Leiden an der Fremde dargestellt, die überall ist, wo nicht Berlin ist.

 

'Aeroplan-Carussel' 1906

 

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